Sehenswertes, Gesundheit, Termine

Lernen von und mit Tieren

01.11.2016 | 2016-04

Auf Tomtes Hof in Norden steht die achtsame Begegnung von Mensch, Tier und Natur im Mittelpunkt. Ob Wollschweine füttern, mit Eseln kuscheln oder „bei Schafen schlafen“ – jeder Besuch ist ein Erlebnis. Hier können Kinder und Erwachsene eine Menge erfahren – über ihre Umwelt und über sich selbst.

Nur weil man etwas nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass es das nicht gibt …“, tröstet die Mutter die kleine Emma in der Geschichte „Tomte Tummetott“ von Astrid Lindgren. Gemeint ist der Nisse Tomte, ein Fabelwesen aus Skandinavien, das im Winter aus seinem Versteck auf dem Heuboden herauskommt, um nach den schlafenden Tieren des Bauernhofes zu schauen und ihnen das lange Warten auf den Frühling zu verkürzen. Tomte kennt all ihre Geheimnisse. „Und ich kenne Tomte schon seit meiner Kindheit“, lacht Hofbesitzerin Dr. Juliane Marliani. Begegnet sei sie dem Hausgeist selbst noch nicht – aber: „Auf unserem Hof haben ihn schon viele Kinder gesehen“, schmunzelt sie, „und zwar immer wieder anders. Es ist gut zu wissen, dass er da ist und auf uns aufpasst.“
Ein Bauernhof mit vielen Tieren – und mit einem Tomte –, das war schon immer der Traum der promovierten Diplom-Biologin, die aus dem Ruhrgebiet nach Ostfriesland kam.
2003 kauften sie und ihr Mann, André Marliani, den Gulfhof am Ryksdyker Weg in Norden und nannten ihn „Tomtes Hof“. Ihre Erfahrungen als Tiertrainerin und Homöopathin waren Ausgangspunkt für diese Idee.
Im Oktober 2004 wurde der gemeinnützige Verein „Tomtes Hof e.V.“ gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Experten aus den Bereichen Biologie, Pädagogik, Informationstechnologie und Betriebswirtschaft. Ein Jahr später und nach zahlreichen Umbaumaßnahmen konnte der Hof eröffnet und an den Verein verpachtet werden. Der Verein verfolgt die Zwecke der Jugend- und Behindertenhilfe, Erziehung und Bildung, Förderung des Natur- und Umweltschutzes und vor allem des Tierschutzes. „Hierunter verstehen wir vor allem die artgerechte Haltung und Pflege unserer Haus- und Nutztiere und deren Nach- und Aufzucht unter natürlichen Bedingungen“, erzählt Juliane Marliani.
Als Mitglied der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH) beteiligt sich Tomtes Hof an Zuchtprogrammen von bedrohten Rassen und trägt so zur Erhaltung dieser Tiere bei. Das Verantwortungsbewusstsein der Menschen gegenüber Tieren und deren Umwelt zu stärken und damit das ökologische Bewusstsein für einen nach-
haltigen Natur- und Umweltschutz zu fördern ist Dr. Marlianis Ziel. Vor Ort wird die Biologin dabei von Fachkräften, Sozial- und Erlebnispädagogen und Therapeuten ebenso unterstützt wie von Praktikanten oder Freiwilligendienstlern.

UND WAS FRESSEN DIE SCHAFE?
Der Hof der Marlianis liegt inmitten der Westermarsch, einer historischen Marschlandschaft direkt am Langhauser Tief. Umgeben von einer Graft, wo sich Wild- und Laufenten tummeln, altem Baumbestand und 4,5 Hektar Weideland ist er ein Erlebnisort fĂĽr Menschen und Tiere.
Dieses Mal ist es eine fröhliche Schar von Kleinkindern, die sich mit ihren Eltern auf das Erlebnis Tomtes Hof einlassen möchte. Sie sind zur „Tierischen Mit-Mach-Fütterung“ gekommen und werden in den nächsten anderthalb Stunden viel über die Tiere, ihren Charakter und ihre kulinarischen Vorlieben erfahren. Die hautnahe Begegnung und ein respektvoller Umgang gehören dazu.
Vor jeder Fütterung kommen Kinder und Mitarbeiter zusammen: Welche Art wird als nächstes versorgt? Welche Pflanzen mögen Kaninchen? Worauf muss ich achten, wenn ich die Pferde füttere? Was fressen die Schafe? Ist das Getreide für die Schweine nicht zu trocken? „Man kann Wasser dran tun“, tönt es aus der Runde – und so wird’s dann auch gemacht.
Viele tierische Mitbewohner auf dem Hof gehören zu den gefährdeten Haustierrassen: Rote Wollschweine (Mangalitza) zum Beispiel, ziemlich große und kräftige Borstentiere, sind in ihrem Bestand extrem bedroht. Die friedlichen Zeit­genossen versetzen die kleinen Leute in Staunen. Wie nah darf „Schwein“ dem Menschen kommen – und umgekehrt? Die Lütten haben durchaus Respekt vor den zotteligen Riesen – Angst haben sie nicht. Was die freundlichen Wollschweine gerne fressen und womit man ihnen Gutes tun kann, haben sie zuvor bei Wiebke gelernt. Die absolviert gerade ein Freiwilliges Ökologisches Jahr auf Tomtes Hof und gestaltet mit Praktikantin Martina einen lustigen und informativen Nachmittag.
„Schweiiiineeeee“ schallt es dann mehrstimmig über den Hof. Für Wollschwein Jolante und ihre Artgenossen das Signal: Es gibt etwas zu mampfen. Angeführt von der stattlichen Leitsau setzt sich die Crew in Bewegung. Ganz schön flott die Meute. Die jungen Besucher folgen. Sie haben nicht nur vergnügt Gerstenschrot und Wasser vermengt, sondern auch Obst im Schweinestall „versteckt“ und möchten nun unbedingt dabei sein, wenn die Tiere diese Köstlichkeiten wieder ausbuddeln. Dass Jolante und die Ihren darin Übung haben und Äpfel und Birnen schnell finden, haben sie nicht erwartet.
Danach geht es zu den Schafen. Die Kinder tragen mit Salat, Getreide und anderen Leckereien gefüllte Eimer in den Stall und füllen die Tröge – die einen sehr behutsam, die anderen mit Schwung. „Schaaaafe!“ – Die lassen sich nicht lange bitten. Als Wiederkäuer sind sie ohnehin die meiste Zeit mit Kauen beschäftigt, was die Urlauberkinder schon auf den Deichen beobachtet haben. Anschließend wird gekuschelt. „Wo möchten die Schafe denn am liebsten gekrault werden?“, gehört zu den oft gestellten Fragen. Die meisten Schafe genießen die Zuwendung der Menschen. Andere haben heute mal „keinen Bock“ und ziehen sich zurück.
Einige Besucher auf Tomtes Hof machen gerade Ferien in Ostfriesland. Die Nähe zu den Tieren ist für manche eine neue Erfahrung. „Wir können wegen einer Allergie keine Haustiere halten“, erzählt eine Mutter aus Nordrhein-Westfalen. „Und Bauernhoftiere kennt unser Junge gar nicht.“ Er ist nicht der einzige. Umso schöner ist es mit anzusehen, wie unbekümmert, aber auch umsichtig die Kinder den Tieren begegnen. Vielleicht gehören sie ja einmal zu den Teilnehmern der Natur-Erlebnistage, die Tomte in den Ferien anbietet, dürfen „bei Schafen schlafen“, sich als Forscher betätigen oder die Tierwelt Ostfrieslands kennenlernen.
Projekte mit FlĂĽchtlingskindern sind in Planung. Mit ihren deutschen Spiel- oder Schulkameraden sollen auch sie von und mit Tieren lernen.

TIERE ENTSPANNEN!
Die positive Wirkung, die Tiere auf das menschliche Wohlbefinden haben können, ist seit langem wissenschaftlich belegt. Die Anwesenheit eines Tieres gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich zu öffnen und zu entspannen. Der Umgang mit ihnen fördert soziale Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein und Einfühlungsvermögen. Stress und Aggressionen können abgebaut werden. Die Angebote auf Tomtes Hof richten sich an Bildungsträger, soziale und therapeutische Einrichtungen. Sie beinhalten Vorträge und Seminare, Workshops und naturnahe Freizeitangebote bis hin zu individuellen Programmen für Schulen, Kindergärten, Kinderheime, Behinderteneinrichtungen und Kurheime.
Die „tiergestützte Intervention“ – ein durch die Delfintherapie bekannt gewordener Begriff – wird als Einzelfördermaßnahme, aber auch für Gruppen angeboten. Co-Therapeuten sind immer die Tiere. „Wir nutzen die Begegnung und Auseinandersetzung mit Tieren als impulsgebendes Erfahrungsfeld für Kinder und Jugendliche, ebenso für Erwachsene mit besonderem Förderbedarf“, erklärt Dr. Marliani. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit dem Sozialamt der Stadt Norden oder dem Amt für Kinder, Jugend und Familie. Ein Streichelzoo ist Tomtes Hof also nicht! „Das Streicheln und Berühren eines Tieres führt zum Aufbau einer tiefen empathischen Beziehung.“ Die Menschen werden angeleitet, sich in dieser Atmosphäre frei zu entfalten, alle Sinne einzusetzen, Ängste abzubauen und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Juliane Marliani gibt ein Beispiel: „Kindern aus Pflegefamilien fällt es oft schwer, Bindungen aufzubauen. Mit Tieren ist das einfacher. Es fällt leichter, mit ihnen zu kommunizieren, sich ihnen anzuvertrauen.“

MENSCH UND NATUR SIND EINS
Die gute Sozialisierung der Vierbeiner ist genauso wichtig, wie das „richtige“ Tier für den jeweiligen Menschen zu finden. Die Tiere werden hier nicht „nur“ artgerecht gehalten, sondern als individuelle Persönlichkeiten fachgerecht und rücksichtsvoll eingesetzt. „Wir arbeiten mit den Tieren sehr freiheitlich“, erzählt die Tiertrainerin. Auch wenn das Zeit und Mühe erfordert. „Sie entscheiden selbst, wann sie nach draußen möchten und wann nicht.“ An Möglichkeiten mangelt es den 120 tierischen Mitbewohnern – neben den Wollschweinen und Schafen sind es Esel und Ziegen, Meerschweinchen und Kaninchen, Hühner, Enten und Gänse, Pferde, Katzen und Hofhündin Ina – auf dem weitläufigen Gelände nicht.
Dass Tomtes Hof als einer von bislang drei zertifizierten Höfen in Niedersachsen 2009 in das bundesweite Netzwerk „Begegnungshöfe“ aufgenommen wurde, spricht für sich. Die Höfe zeichnen sich durch eine nachhaltige Förderung der Mensch-Tier-Beziehung und die achtsame und respektvolle Begegnung mit Heim- und Nutztieren aus. Diese Zertifizierung durch die 2008 gegründete Stiftung „Bündnis Mensch & Tier“ ist Juliane Marliani besonders wichtig, dokumentiert sie doch eine vorbildliche Tierhaltung, die amtstierärztlich nachgewiesen werden muss.
Viel Wert legt sie zudem auf einen ganzheitlichen Ansatz. Die Biologin sagt: „Wir möchten vermitteln, dass Mensch und Natur eins sind.“ Die Ressourcen der Natur sollen genutzt und bei der Persönlichkeitsbildung eingesetzt werden. „Als Partner des Biosphärenreservats Niedersächsisches Wattenmeer liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit in der Nachhaltigkeit mit Bezug auf die Regionalität.“ Tomtes Hof will beispielgebend sein: Wo immer es geht, werden biologisch erzeugte, regionale Produkte genutzt. „Das Getreide für unser Tierfutter beziehen wir vom Biolandhof Agena in der Krummhörn und lassen es in der Westgaster Mühle in Norden schroten.“ Natürlich wird auch die Wolle der auf dem Hof geschorenen Schafe genutzt – zum Beispiel, um im Rahmen von Projektwochen weiterverarbeitet zu werden.
Die Angebote auf Tomtes Hof wurden kontinuierlich erweitert: In den Kursen der Ethnobotanikerin Susanne Figur sollen Erwachsene für die Heilkräfte der Natur sensibilisiert werden. Kräuterseminare nach Edward Bach, die oft unterschätzte Energie der Bäume und die Tradition der Medizinräder finden ihr Publikum.
In der ruhigen Hof-Atmosphäre am Ryksdyker Weg können die Teilnehmer so eine Menge erfahren – über ihre Umwelt und sich selbst.

TOMTES HOF E.V., Dr. Juliane Marliani
Rysdyker Weg 1, 26506 Norden, Telefon (04931) 9301634
AusfĂĽhrliche Informationen zu TOMTEs HOF und den Programminhalten unter www.tomtes-hof.de.
Verbindliche Anmeldungen fĂĽr alle Veranstaltungen:
Telefon (04931) 9301634 oder info@tomtes-hof.de
Dienstags und in den Ferien auch freitags findet von 16.00 Uhr
bis 17.30 Uhr die »tierische Mit-Mach-Fütterung« statt.
Kinder ab 2 Jahren können mit und ohne Eltern bei der Versorgung der Hoftiere helfen.