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Historisch bis heiter – ein Lesebuch aus der Küstenstadt

01.02.2016 | 2016-01, Norderland Magazin

Die kolorierte Ansichtskarte zeigt den 1906–1908 errichteten Neubau des Kaiserlichen Postamtes an der Ostseite des Marktplatzes kurz nach der Vollendung.

Die älteste „Handwerkerstraße“ von Norden bietet mehr als nur Handwerk.

Text: Hildegard Schepker

Ganz neu in der „Bibliothek Ostfriesland“ ist der zweite Band der Norder Stadtgeschichten, erzählt von Johann Haddinga, dem ehemaligen Chefredakteur der Norder Tageszeitung „Ostfriesischer Kurier“. Informativ und unterhaltsam zugleich schildert der exzellente Kenner seiner Heimatstadt in 23 Kapiteln ein Stück Stadtgeschichte der letzten 200 Jahre. Akribisch recherchiert bringt er seinen Leserinnen und Lesern herausragende historische Ereignisse und Entwicklungen sowie Episoden aus der Vergangenheit nahe − wo immer es passt, mit einem Augenzwinkern und einem Schuss ostfriesischen Humors.
Nahezu in Vergessenheit geraten sind zwei herausragende Maler des 19. Jahrhunderts: Evert Janssen Schipper und Hinrich Adolph von Lengen. Gleich das erste Kapitel widmet Haddinga diesen beiden Künstlern, die auf höchst unterschiedliche Art Ansichten von Norden schufen: Schipper bannte mit zartem Pinselstrich Norder Gebäude auf kostbares Porzellan, von Lengen zeigt mit beeindruckenden Aquarellen die Stadt am Meer, wie sie keiner mehr kennt.
Eine wichtige Rolle in dem neuen Werk spielt Nordens sehenswerter Mittelpunkt, der Marktplatz. Der Leser erfährt, dass hier in der Vergangenheit nicht nur ein „Menschenmarkt“ sondern auch – auf der Westseite, wo der Galgen stand − Hinrichtungen stattgefunden haben. Die Grundlage für den heutigen Anblick des Marktplatzes wurde mit systematischen Anpflanzungen von Bäumen im 18. Jahrhundert geschaffen. Heute nicht mehr vorhanden ist die Osterpoort vor der Ludgerikirche ebenso ein Thema in dem ausführlichen Kapitel „Der Markt – ein Kunstwerk“ wie das Glockenspiel im Glockenturm mit seiner langen Tradition und vieles mehr.

In einem eigens zur Gewerbeschau errichteten Pavillon auf dem Mittelmarkt trat die erste Norder Stadtkapelle  unter Leitung von Richard Gottschalck (Bildmitte, mit Taktstock) auf. Ein zweites Bauwerk dieser Art entstand auf dem Blücherplatz;  es wurde während der Ausstellung von der Firma Doornkaat bewirtschaftet und diente später als Musikpavillon.

In einem eigens zur Gewerbeschau errichteten Pavillon auf dem Mittelmarkt trat die erste Norder Stadtkapelle
unter Leitung von Richard Gottschalck (Bildmitte, mit Taktstock) auf. Ein zweites Bauwerk dieser Art entstand auf dem Blücherplatz;
es wurde während der Ausstellung von der Firma Doornkaat bewirtschaftet und diente später als Musikpavillon.

Dass es in der Küstenstadt keineswegs „verschlafen“ zuging, bewies nicht nur die erste Norder Gewerbeschau, die im Jahre 1894 auf dem Marktplatz stattfand und zahlreiche interessierte Besucher aus nah und fern anzog. Wenn es um moderne Technik und deren Vermarktung ging, hatte die Familie Freese in der Westerstraße stets die Nase vorn. Sie handelte mit den ersten Fahrrädern, bot die ersten Automobile an und war auch später, als Radios und Fernsehgeräte in die Norder Haushalte Einzug hielten, federführend. Bereits früh hat es in Norden eine Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs gegeben. Wie abenteuerlich eine vom ADAC organisierte Rundfahrt am 25. Mai 1913 durch Ostfriesland verlief, wird im Kapitel „Als die Norder fahren lernten“ erzählt. Eine weitere Geschichte widmet der Autor einer noch jungen Episode der Norder Kfz-Geschichte mit dem Titel „NOR – mehr als ein Kennzeichen“.
„Bitte nicht hineinbrüllen“ lautete ein durchaus ernstgemeinter Hinweis in der Gebrauchsanweisung für eines der ersten Telefone, von deren Nützlichkeit auch in Norden ansässige Betriebe bald überzeugt waren: Die Vereinigte Dampfschiffreederei Norden und Norderney, das Teehandels-
haus Onno Behrends, die Spedition Peter Janssen, der Verlag Diedrich Soltau, die Schokoladenfabrik Heddinga, die Tabakfabrik Steinbömer & Lubinus sowie die Eisenhütte gehörten zu den ersten Nutzern dieser bahnbrechenden Erfindung.
Einen Zeitzeugen lässt Haddinga im Kapitel „Szenen aus der Marsch“ zu Wort kommen. Jacob de Groot (geb. 1875, gest. 1961) schildert auf anrührende Weise das Landleben hinter dem Deich mit all seiner Härte. Als Landarbeiter und „Dieksticker“, als Kutscher und Bierfahrer hatte der junge Mann sein Geld verdient, bevor er sich bei der Eisenbahn verdingte und − getrieben durch eine ordentliche Portion Ehrgeiz – bis zum Stationsvorsteher am Bahnhof Esens aufstieg.
Eine Geschichte aus dem Badeleben in Norddeich lässt die Leser schmunzeln: Es geht darum, was schicklich ist und was nicht. Für Erheiterung in der Bevölkerung (und in der Presse) sorgte eine Verordnung über angemessene Badebekleidung, herausgegeben im September 1932 vom preußischen Innenminister Franz Brecht, die im Volksmund alsbald „Zwickel-Erlass“ genannt wurde …
Manche Leserin, mancher Leser kann sich noch erinnern an die Zeit des so genannten Dritten Reiches und wie das Volk gezwungen wurde, Weihnachten nach der Deutung der braunen Machthaber zu feiern. Auch die Norder
mussten erleben, wie ein kirchliches Fest „umgedeutet“ wurde und was „Weihnachten unterm Hakenkreuz“ bedeutete.
In weiteren Kapiteln erinnert der Autor an Gebäude, die der Abrissbirne zum Opfer gefallen sind, wie das ehemalige Gasthaus und Wohlfahrtsheim am Zingel sowie die Traditionsgaststätte Stürenburg am Norder Tief. Ferner erzählt er von der Rettung des „Vossenhuus“ (heute Stadtbibliothek) und des Schöningh’schen Hauses.
Dank Johann Haddinga werden sie vor dem Vergessen bewahrt: Norder Bürger, die man wohl zu Recht als Originale bezeichnen kann. Jakob Zimmerling der eine, genannt „Buko“. Er sorgte auf seine Weise dafür, dass die Stadt
sauber blieb, indem er Papier und andere Gegenstände aufsammelte und zu Geld machte, das er für seinen Lebensunterhalt benötigte. Johann Friedrich Happach der andere. Er war ein reeller, ehrlicher Kaufmann, bekannt für seine Pingeligkeit, seinen Geiz und seine sonderbaren Gewohnheiten. Den dritten im Bunde nannte man Siegfried, obwohl er eigentlich Albert Wiegmann (oder Wiechmann) hieß. Der harmlose Kauz, der sommers wie winters barfuß in Sandalen unterwegs war, galt als überintelligent und als Mann mit dem absoluten Gehör.
Das Vorwort zu den Norder Zeitbilder verfasste Verleger Christian Basse. Er bringt es darin auf den Punkt mit dem Satz: „Am Ende sagt der Leser: ‚Schön, dass ich das jetzt alles über Norden weiß.‘“