Sehenswertes, Gesundheit, Termine

Flucht übers Meer

01.02.2018 | 2018-01, Norderland Magazin

Text: Anna Sophie Inden, Fotos: wikipedia / SKN-Archiv

Ende 1978 kamen 151 vietnamesische Flüchtlinge in Ostfriesland an, denen Tausende folgen sollten. In Norden-Norddeich fanden sie eine zweite Heimat – ihre Integration gilt als beispielhaft in Deutschland. Bis zum 8. April lässt eine Sonderausstellung im Ostfriesischen Teemuseum Norden Zeitzeugen zu Wort kommen und zieht Vergleiche zur aktuellen Flüchtlingskrise.

Was ist das Wichtigste in Ihrer Fluchttasche?“, steht mit
Kreide auf der Tafel im Ausstellungsraum geschrieben. Es ist kaum vorstellbar, was man mitnehmen würde, auf eine Reise ins Ungewisse, ohne Chance auf
Rückkehr. Was ist notwendig? Was erinnert in der Fremde an zu Hause? Und vor allem: was passt überhaupt in die eilig gepackte Tasche? Unter der Frage sind die Antworten der Besucher zu lesen. Ausweis und Geld. Fotos. Taschenmesser. Handy. Kekse. Mein Hamster. Zahnbürste. Ein Wörterbuch. Die Familie. Wechselkleidung. Medikamente. Tee und Sahne. Bier. Ganz unten auf der Liste steht, was wohl jeder Flüchtling mit sich trägt: Hoffnung auf Sicherheit. Als Kim Tan Dinh sich entschließt, mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern Südvietnam zu verlassen, hat er einen
kleinen Spiegel dabei. Es ist keine eilige Flucht, sondern eine wohlüberlegte. Rund ein Jahr haben die Vorbereitungen gedauert. Das Boot, das die Familie an sichere Ufer bringen soll, ist selbstgebaut. Kim Tan Dinh flieht nicht das erste Mal.

Schon 1954, als er vier Jahre alt ist, ziehen seine Eltern wie 800 000 andere Katholiken vom kommunistischen Norden in den Süden Vietnams. Als im April 1975 nordvietnamesische Truppen Saigon einnehmen, ist es das Ende des zehn Jahre währenden Vietnamkriegs, das Ende der letzten, besonders grausamen Phase eines rund dreißigjährigen bewaffneten Konflikts. Doch den vermeintlichen oder tatsächlichen Anhängern des südvietnamesischen Regimes droht jetzt  Verhaftung, Folter und Hinrichtung. Kim Tan Dinh, der in der Armee Südvietnams gedient hatte, kommt in ein Umerziehungslager, ebenso wie sein Vater und sein Bruder. Die Familie wird enteignet, verliert ihr Haus. Nach drei Monaten darf er das Lager verlassen, die Entscheidung zur Flucht steht längst fest. Und die Entscheidung, einen kleinen Spiegel einzupacken, wird Leben retten. Nach vier Tagen auf See gelingt es Kim Tan Dinh, einen Piloten der amerikanischen Pazifikflotte auf sich aufmerksam zu machen, indem er mit dem Spiegel die Sonne reflektiert. Er, seine Frau und seine Kinder werden von der Cap Anamur aufgenommen, einem zum Hospitalschiff umgebauten Frachter. 1980 erreicht die Familie Deutschland und findet im Sozialwerk Nazareth in Norddeich Zuflucht.

„Von Vietnam nach Ostfriesland – Ankunft und Aufnahme der Boatpeople in Norden-Norddeich“ lautet der Titel der aktuellen Sonderausstellung im Ostfriesischen Teemuseum in Norden. Sie erzählt die Geschichten jener Menschen, die vor Verfolgung, Unterdrückung, Gewalt und Hunger aus Südvietnam flohen. Der Spiegel von Kim Tan Dinh ist Teil der Ausstellung – eines von vielen besonderen Stücken, die für ihre Besitzer von unschätzbarem Wert sind.

1,6 Millionen Menschen versuchten nach Ende des Vietnamkrieges und verstärkt seit 1978 einen der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres über den Seeweg zu erreichen. In viel zu kleinen, unter der Last zu vieler Menschen schwankenden Booten wollten sie in die USA, nach Kanada oder Australien gelangen. Damals wurde der Name „Boatpeople“ geprägt, er ist bis heute auch im deutschen Sprachgebrauch verankert. Fast 250 000 Vietnamesen überlebten die Flucht nicht. Sie ertranken, verdursteten oder wurden von Piraten angegriffen, blieben mitsamt der Hoffnung im Gepäck auf See. Die Bilder der Verzweifelten gingen um die Welt. So wie das des Frachters Hai Hong, der im Oktober 1978 mit 2517 Flüchtlingen an Bord nach wochenlanger Irrfahrt vor Malaysia lag. In Indonesien und Singapur waren die Hilfesuchenden bereits abgewiesen worden. Es war auch jenes Bild, das im Dezember 1978 den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht veranlasste, die Aufnahme von 1000 Vietnamesen in seinem Bundesland zu organisieren. Schnell und unbürokratisch.
Einer der wichtigsten Orte für die Betreuung wurde die Freizeit- und Heimstätte Nazareth in Norddeich. Am 11. Dezember 1978 kamen die ersten Flüchtlinge dort an; bis September 1999 sollten 3155 Vietnamesen in Norddeich Zuflucht finden – und eine neue Heimat auf Zeit.

Und warum jetzt, Jahrzehnte später, diese Ausstellung? „Auslöser waren einige Spiegel-Titel aus dem Jahr 2015“, sagt Dr. Matthias Stenger, Leiter des Ostfriesischen Teemuseums in Norden. Diese hängen gerahmt am Eingang der Ausstellung. Die Schlagzeilen: „Erbarmungslos – das tödliche Geschäft der Schlepper-Mafia“, „Mutter Angela – ihre Politik entzweit Deutschland“ und schließlich „Kontrollverlust – Deutschland im Ausnahmezustand“. Das Magazin Focus ergänzt die Reihe mit „Die Wahrheit über falsche Flüchtlinge“. 2014 stieg die Zahl jener, die auf der Mittelmeerroute nach
Europa flüchteten, dramatisch an. Im Folgejahr kamen noch mehr Flüchtlinge, nun vor allem über den Balkan. 2015 suchten mehr Menschen denn je aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern in Deutschland Asyl. „Die Flüchtlingskrise ist bis heute beherrschendes politisches Thema“, sagt Matthias Stenger. Auch beobachtet er, dass es den hitzig geführten Diskussionen in dieser Sache oft an Sachlichkeit fehlt. „Ich habe mich gefragt: Wie können wir als Museum einen Beitrag leisten, das zu ändern?“ Da lag es nahe, als Norder Museum die Geschichte der Boatpeople zu erzählen. Von allen im Zeitraum von 1978 bis 1999 in Niedersachsen aufgenommenen Vietnamesen fanden deutlich mehr als die Hälfte zunächst in Norddeich Zuflucht. „Die Integration dieser Flüchtlingsgruppe gilt als die erfolg￾reichste in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, sagt Stenger. „Nach dem ersten Jahrzehnt konnten die meisten Exilanten ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, stan￾den fest im Berufsleben, die Kinder besuchten oft Gymnasien.“ Gradmesser für Integrationserfolg sind Erwerbssituation und Bildungsteilhabe. Sperrige Begriffe, denen die Interviews mit Geflüchteteten Leben einhauchen: Da ist zum Beispiel Van Quang Hong, dessen Vater 1981 aus Vietnam nach Norden floh. Van Quang Hong wurde hier geboren, hat Abitur gemacht und eine Ausbildung bei der Sparkasse. Seit der Kommunalwahl 2016 ist er Mandatsträger im Rat der Stadt Norden. „Eine Ehre, dass ich gewählt worden bin“, sagt er. Zweimal ist er bisher in Vietnam gewesen, um seine Wurzeln
kennenzulernen. Die Interviews sind Kern der Sonderausstellung. Neben den Geflüchteten kommen nachgezogene Familienangehörige, Mitarbeiter des Sozialwerks Nazareth, Deutschlehrer, ehrenamtliche Helfer und andere Zeitzeugen zu Wort. „Die Aufnahme der Boatpeople war ein Jobmotor“, sagt Matthias Stenger. Die Kreisvolkshochschule Norden zum Beispiel profitierte vom Vietnamprojekt, schuf unbefristete Stellen für Deutschlehrer und übernahm nicht nur den Bereich der Erwachsenenbildung sondern auch den Unterricht schulpflichtiger Kinder. „Wir haben längst nicht nur Unterricht gemacht, sondern ganz viel soziale Arbeit, wir haben ganz viel mit den Menschen zusammen gelebt“, erinnert sich Irene Steffens, die damals die Projektleitung für den Deutschunterricht inne hatte. Und wie so viele hat sie die Arbeit mit den Flüchtlingen aus Vietnam als große Bereicherung empfunden.

Entstanden ist die Ausstellung als Gemeinschaftsprojekt mit der Conerus-Schule Norden. Lehrerin Cornelia Kruse setzte sich mit Schülern des Beruflichen Gymnasiums intensiv mit den Themen Flucht und Vertreibung auseinander. Die Elftklässler erarbeiteten Fragebögen für die Interviews, führten die Zeitzeugengespräche und schnitten das umfangreiche Filmmaterial mit Unterstützung vom Medienzentrum Norden. Reduziert auf fünfeinhalb Stunden ist das Videomaterial nun an den Mediastationen im Teemuseum zu sehen und zu hören. Schwere Kost. „Es war nicht einfach, Gesprächspartner zu finden“, erzählt Matthias Stenger. Weil viele sich scheuten, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, oder den Kontext Museum nicht recht einordnen konnten. Und weil sie ihre traumatischen Erinnerungen seit Jahren in den hintersten Winkel des Bewusstseins gedrängt hatten. Umso dankbarer ist der Museumsleiter, dass sich am Ende doch so viele Vietnamesen
bereit erklärten, zu erzählen, was manche nie zuvor erzählt hatten. „Es sind Geschichten, die nahe gehen. Und besonders für Jugendliche, die vorher nicht mit dem Thema in Berührung gekommen sind, ist es wichtig, sie zu hören.“

Was kann man nun lernen aus dem Vergleich der Vietnamesen mit den Flüchtlingen der letzten beiden Jahre? Denn das ist erklärtes Ziel der Ausstellung: Anregungen bieten, wie man aktuellen Herausforderungen begegnen kann. Aber kann man die beiden Gruppen überhaupt miteinander vergleichen? „Gemeinsamer Nenner ist die Flucht übers Meer. Die Bilder ähneln sich auf erschreckende Art und Weise – Menschen sterben auf See, ertrinken zu Tausenden, weil ihre überladenen Fischerboote kentern.“ Und heute wie damals kommen Menschen ins Land, die aus Not ihre Heimat verlassen haben. Deutlich unterscheiden sich die Dimensionen: Aus Vietnam kamen in zwei Jahrzehnten rund 40 000 Menschen nach Deutschland, 2015 waren es 890 000 Flüchtlinge in einem Jahr. „Ganz entscheidend für die gelungene Integration der Boatpeople waren natürlich die Rahmenbedingungen“, sagt Stenger. Als Kontingentflüchtlinge erhielten die Vietnamesen uneingeschränkte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, staatliche Förderung in Form von Deutschunterricht, Umschulungen, Ausbildungen oder Stipendien. Und schließlich wurde Familiennachzug großzügig gewährt – wohl der wichtigste Faktor für ein echtes Ankommen in der Fremde. „Diese Menschen waren traumatisiert, vom Krieg, von Flucht und Entwurzelung. Aber es wurden ihnen alle Rechte gewährt, die notwendig sind, damit ein Mensch sich in der Fremde einleben und wohl￾fühlen kann.“ Und heute? „Die Flüchtlinge werden hier erstmal geduldet, leben oft jahrelang mit der Ungewissheit, ob sie Asyl bekommen oder nicht“, macht Matthias Stenger deutlich.
Wie soll man ankommen, wenn man auf eine dauerhafte Bleibe nur hoffen darf? Auch diese Frage ist Thema im Teemuseum – zwischen den Zeilen. Vier Interviews mit jungen Geflüchteten aus Syrien, Eritrea und dem Irak vervollständigen die Ausstellung und schlagen den Bogen in die heutige Zeit.
Museumsleiter Matthias Stenger hofft, dass die Auseinandersetzung mit den vielen Beispielen gelungener Integration als Impulsgeber und Motivation verstanden wird. Auch will er mit der Ausstellung zur Versachlichung der Debatte um Flüchtlinge in der Bundesrepublik beitragen: „Wir haben als Museum einen politischen Bildungsanspruch. Indem wir aufklären, wollen wir deutlich machen, wie grundfalsch jegliche Verallgemeinerung ist. Besonders wichtig war es, das an die Jugendlichen weiterzugeben, die in diesem Jahr zum ersten Mal wählen durften.“ So wie viele der Schüler von Cornelia Kruse, die an der Ausstellung mitgearbeitet haben. „Ich habe das Gefühl, sie sind gestärkt aus dem Projekt rausgegangen und viel offener geworden“, sagt die Lehrerin. Einige haben sogar angeboten, Besucher durch die Ausstellung zu führen. Und neulich im Unterricht sollten die Jugendlichen selbst auf den Punkt bringen, was die Projektarbeit ihnen gebracht hat. „Es macht mehr Spaß, die Vergangenheit kennenzulernen, wenn sie emotional von Zeitzeugen erzählt wird“, schreibt eine Schülerin. Eine andere stellt fest: „Die Gespräche haben mir gezeigt, dass ich mein eigenes Leben schätzen sollte und dankbar sein kann, für das, was ich besitze und was mir widerfährt.“ Zum Beispiel dafür, keine Fluchttasche packen zu müssen.