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Abschied vom Dampfzeitalter

01.05.2016 | 2016-01, Norderland Magazin

Vor knapp 41 Jahren, am 1. Juni 1975, zog die Bundesbahn  die letzten Schnellzugdampflokomotiven auch in Norden-Norddeich aus dem Verkehr und ersetzte sie durch moderne Dieselloks.

Norden – Wehmut kam auf, Tränen flossen, Filmkameras surrten, ein Fernsehteam drehte, unzählige Fotoapparate klickten und überall fachsimpelten Eisenbahnfreunde. Das waren Szenen, die sich Ende Mai 1975, vor 41 Jahren, am Schienenstrang und auf den Bahnhöfen im Emsland und an der weiterführenden Strecke von Leer über Emden und Norden bis zur Endstation in Norddeich-Mole abspielten.

Die Deutsche Bundesbahn (DB) zog in jenen Tagen auf der sogenannten Emslandstrecke die letzten Schnellzug­dampflokomotiven aus dem fahrplanmäßigen Reisever­kehr.

Da hieß es Abschied nehmen von vertrauten Bildern und technischen Geräuschen, von stolzen Prachtexemplaren der deutschen Eisenbahngeschichte, in der fortan ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Ab 1. Juni 1975, einem Sonntag, setzte die Bahn mit Beginn des neuen Sommerfahrplans auch im Nordwesten der Bundesrepublik nur noch Dieselloks ein und passte sich damit der Entwicklung im übrigen westeuropäischen Raum an. Mit dem Beginn der Elektrifizierung folgte 1980 die Umstellung auf E-Loks. In der DDR verkehrten die Dampfrösser allerdings noch bis in die 1980er-Jahre.

In Nordwestdeutschland vollzog sich während der letzten Maitage 1975 der Abschied von den Dampfloks in Raten, in diesem Fall speziell von der legendären, zuletzt in Rheine beheimateten Baureihe 01.10, die 1968 in 012 umbenannt wurde. Wie sich Augenzeugen später erinnerten, pilgerten damals Eisenbahnfans aus aller Welt nach Westfalen, ins Emsland, vor allem aber nach Ostfriesland – nicht um die damals kursierenden neuesten Ostfriesenwitze zu hören, sondern um die letzten DB-Schnellzugdampfloks in Aktion zu sehen. Unter ihnen war auch der aus Australien angereiste Jonathan Brown, der beim Anblick des von einer Dampflok gezogenen Schnellzuges München – Norddeich und der vielen Schaulustigen begeistert ausrief: „It is really incredible!“
(„Es ist wirklich unglaublich!“).

Die offizielle Abschiedsfahrt, die ein Fernsehteam des Westdeutschen Rundfunks von Anfang bis Ende begleitete, fand am 30. Mai 1975, einem Freitag, statt. Um 13.26 Uhr traf die auf Hochglanz polierte Dampflok 012 081-6 mit dem D-Zug 735 von Rheine kommend auf der Hafenmole in Norddeich ein und setzte sich um 15.09 Uhr für die Rückfahrt mit dem Eilzug nach Rheine wieder in Bewegung. „Abschied vom Dampfzeitalter nun auch in Norden – der Hauptlokführer Johannes Bönte und der Oberlokführer Erwin Somberg winkten vom Führerstand“, hieß es tags darauf unter der Ãœberschrift „Ade geliebtes Dampfroß“ in der Norder Tageszeitung „Ostfriesischer Kurier“, der hinzufügte, dass diese 1940 in Dienst gestellte Lok eine Spitzengeschwindigkeit von 140 Stunden­kilometern erreichte und insgesamt über drei ­Millionen Kilometer „abdampfte“. Auch in Norddeich und Norden verfolgten viele Schaulustige und Fotografen das Ereignis. Doch das war noch nicht das endgültige Aus. Am darauffolgenden Sonnabend, 31. Mai, hatten die Eisenbahnfans erneut Gelegenheit, ihre Wehmut auszukosten. Von Norddeich-Mole aus rollte an diesem Tag noch einmal ein fahrplanmäßiger Schnellzug unter Dampf ins Binnenland – als D 715 bis Rheine mit der Lok 012 066-7 bespannt. Die Endstation des Zuges
war München. Der Gegenzug aus München traf abends in Norddeich ein.

Wer nun immer noch und zum dritten Mal Abschied nehmen wollte, begab sich am Sonntag, 1. Juni, wiederum auf die Emslandstrecke. Am frühen Morgen verließ die Dampflok 012 061 mit einem Gesellschaftszug den Bahnhof Rheine nach Norddeich-Mole und kehrte am Abend mit den Wochenendausflüglern wieder nach Rheine zurück.

Im Frühjahr 1975 berichtete der bundesweit vertriebene „Eisenbahn-Kurier“, dass manche Leute das Ende des Dampflokzeitalters mit ganz anderen Augen sahen. Zitat:
„Der Abschied von den dampfgeführten Schnell- und Eilzügen der Emslandstrecke wird den Anrainern des Bahnhofes Rheine, den Eigentümern der Einfamilienhäuser südlich des Emder Hauptbahnhofs und der Kurverwaltung in Norddeich weniger schwerfallen.

Ein Schnellzugheizer aus Rheine, der in einer Norddeicher Flaschenbierhandlung etwa in Höhe der Lok-Drehscheibe für sich und seinen Meister zwei Flaschen Bier holen wollte, wurde vor einiger Zeit von der Dame des Hauses mit einer solchen Schimpfkanonade bezüglich der umweltverschmutzenden schwarzen Ungeheuer empfangen, daß er sich wundern mußte, überhaupt noch bedient zu werden. Was interessierte es die Dame, daß das Qualmen der ölgefeuerten Dampflokomotiven meist nur auf Bedienungsfehlern beruhte? Was interessierte es sie, daß die verhaßten Maschinen Leistungen erbrachten … Gewiß gab es bedeutendere Einsätze für die Baureihe 012 als den Einsatz auf der Emslandstrecke.

Aber es war faszinierend genug, beispielsweise mit dem
,bunten Schlafwagenzug’ D 730 von Norddeich nach Rheine zu fahren, über die Klappbrücke in Emden zu poltern und dann das plötzliche Anschwellen der Anfahr-Melodie zu vernehmen. Irgendwo in der endlosen ostfriesischen Landschaft wurden die ,Rohre geblasen’ und Lokführer und Heizer blickten dem pechschwarzen ,Atompilz’, den sie da in die Landschaft gesetzt hatten, fast ein wenig selbstzufrieden nach. Wer könnte solche Fahrten vergessen?“ Die letztmalig auf der Emslandstrecke zwischen Rheine und Norddeich eingesetzte und dann aufs Abstellgleis geführte Dampflok-Baureihe beendete eine Ära, die in den 1930er-Jahren begonnen hatte. In jener Zeit bemühte sich die damalige Deutsche Reichsbahn, die Fahrzeiten ihrer Reisezüge, vor allem die der Fernzüge zu straffen und ein Netz schnellfahrender Reisezüge einzurichten. So entwarf die Bahn eine Stromlinien-Schnellzuglok und gab sie bei der Berliner Maschinenbau AG in Auftrag.

Von der so bezeichneten Baureihe 01.10 (später 012) wurden in den Jahren 1939/40 insgesamt 55 Loks geliefert. Der inzwischen begonnene Zweite Weltkrieg zwang die Reichsbahn jedoch, weitere Bestellungen zu stornieren. Für den Kriegseinsatz hatten starke Güterzugloks den Vorrang. Gegen Kriegsende wurden alle im Osten eingesetzten Loks in den Westen des Reichsgebietes gebracht, um sie dem Zugriff der sowjetischen Roten Armee zu entziehen. Ab 1945 befanden sich somit alle 55 „Dampfrösser“ dieser Baureihe in den westlichen Besatzungszonen, also im Bereich der späteren Bundesrepublik. Nachdem sie hier in den Bestand der Deutschen Bundesbahn übernommen worden waren, musste nur eine Lok ausgemustert werden. Sie war im Krieg durch einen Bombentreffer zu schwer beschädigt worden. Nach gründlichen Ausbesserungen sowie äußeren und inneren Veränderungen konnten die übrigen 54 weiterhin eingesetzt werden. 34 wurden im Laufe der Zeit von Kohle- auf Ölhauptfeuerung umgestellt. Die Ölfeuerung brachte eine höhere Leistungsfähigkeit. Bei den Betriebswerken Bebra und Osnabrück kam die Baureihe zu Leistungen, die alle früheren Erwartungen übertrafen. Laufleistungen bis zu 26000 Kilometer im Monat – wie beispielsweise 1956 – waren keine Seltenheit.

Die beiden Schnellzugdampfloks, die vor 41 Jahren im Blickpunkt der Abschiedsfahrten standen, existieren heute noch und befinden sich im Besitz der Ulmer Eisenbahnfreunde. Die ehrwürdige 012 081-6 stand lange Zeit als Denkmal in Bad Münster am Stein und ist heute ein Museumsstück im Bahnpark Augsburg. Die 012 066-7 hingegen ist nach wie vor voll betriebsfähig und erfreut sich auf Sonderfahrten durch ganz Deutschland „bester Gesundheit“. Seit dem Jahr 2000 kommt der „Edelrenner“ auf diese Weise fast regel­mäßig auch nach Norden.